Manche Leute sagen: Die Einschläge kommen näher.
Na gut, man könnte es also so sagen: Die Einschläge kommen näher.
(Das Handy zeigt mir Begegnungen mit niedrigem Risiko, ich halte beim Lesen irgendwie die Luft an. Tage später, wann immer ich das Handy aktualisiere, ist es, als wartete ich auf eine Diagnose: Hab ich‘s oder hab ich‘s nicht.)
Die Einschläge also.
Jaja, das Kriegerische.
Ich will übrigens gar nicht mehr über Covid-19 reden.
Was soll man dazu schon noch sagen, außer: Will ich nicht bekommen, bekomme ich hoffentlich nicht, bekommt hoffentlich niemand mehr, auch nicht der oder die, die man gern mal vor Augen hat, wenn es darum geht, angeblich gerecht und endlich ausgleichend auf verteiltes Übel zu reagieren, jene also, die es jetzt schon haben oder hatten, je nachdem, wann dieser Text hier so gelesen wird, jene vor allem, die mit ihrer Erkrankung umgegangen sind wie fixe Ideen.
Ich meine, er oder sie, die man gern vor Augen hat, wenn es um schlechte Beispiele geht (sie sind dann die besten Beispiele für die schlechten Beispiele) treten auf wie die fixen Ideen eines Idioten, einer Idiotin.
Der oder die, der oder die sich den oder die schlechten Beispiele ausgedacht haben, sind dabei übrigens als halbherzige Idiotin, als halbherziger Idiot zugegen.
Es erstaunt mich noch immer, wie wenig es braucht, um sich den oder die auszudenken. Den oder die kann ich mir zu jeder Tages- und Nachtzeit leichtestens ausdenken; zwischen Tür und Angel, zwischen Nadel und Faden, zwischen Pest und Cholera.
Natürlich könnte ich kraft meiner in der Gegenwart verbrachten Lebensjahre auch als die oder noch besser als der twittern, ich kenne seine Tweets von morgen, ich kenne alle, als stammten sie aus meinem Kopf.
(Sie stammen nicht aus meinem Kopf.)
Ich kann sagen, was der oder die demnächst tun. Ich fürchte, das ist meine überflüssigste Kompetenz.
Ich hatte also in diesen Text geschrieben: Ich will nicht mehr über Covid-19 reden.
Ich wollte diese Krankheit nicht mehr sehen, nicht mehr von ihr hören, ich wollte durch die sozialen Kanäle rasen und allen rückwirkend den Mund verschließen und die Tastaturen entziehen, die da über die Möglichkeit eines weiteren Lockdown sprachen. Ich wollte ebenso jene verantwortlich machen und bitten, nun lautstark zu ihren Aussagen zu stehen, die noch vor kurzem gesagt hatten, es werde in Sachsen keinen zweiten Lockdown geben. Ich wollte zu ihnen eilen und fordern wie ein Kind:
Versprechen Sie es mir!
Und ich wollte sagen: Sie haben es mir aber versprochen! Sie haben gesagt, es wird keinen weiteren Lockdown geben.
Und man hätte mir erwidert: Wir haben nichts versprochen.
Aber Sie haben es gesagt.
Nun ja, aber wir gingen von einer anderen Situation aus.
Aber Sie wussten doch im Sommer bereits genug über die Situation, um ahnen zu können, wie tollkühn es ist, eine lockdownfreie Zukunft in Aussicht zu stellen.
Wussten wir das?
Sie hätten das in Ihr Agieren und Reden einbeziehen müssen.
Das haben wir.
Es klang aber anders.
Wie hätte es denn klingen sollen?
Das würden die Befragten gar nicht fragen. Sie würden an dieser Stelle das Gespräch unterbrechen, würden mich nicht um Vorschläge oder Korrekturen bitten.
Stattdessen: Was haben Sie gesagt? Wir können Sie gar nicht hören.
Oder: Schweren Herzens müssen wir unsere Haltung in dieser Sache ändern.
Dies ist ein Liebesbrief an alle Kinos, Theater, Museen, an Clubs, an Bars, an Kneipen und Restaurants, an Literaturhäuser. Was ich Euch schon immer sagen wollte: You know I‘d leave any party for you. (https://www.youtube.com/watch?v=GzmL5bT4kzI). Ich komme gerannt, wenn Ihr ruft. Ich vermisse Euch wie verrückt. Ich habe versucht, mich zu bevorraten, aber es funktioniert nicht.
Dieser Liebesbrief bricht ab, die Liebe hält an.
Jedenfalls wollte ich mich verstecken oder die Welt vor mir verborgen halten, eine alte, schlechte Angewohnheit. Und ich saß in diesen vollen Zügen, saß manchmal auf dem Boden, auf den Stufen zur Tür. An der gegenüberliegenden Tür ein Mann, der seine Nagelschere auspackte, sich die Fingernägel schnitt, später die Verpackung liegenließ. Ein sehr erkälteter Mann, der hustete und nieste und zum Telefonieren die Maske abnahm. Ich sah ihn an, aber meine Blicke können nichts bewirken. Direkt hinter mir zwei Männer mit Bierflaschen, die die gesamte Fahrt von Berlin bis Leipzig – ach, ich breche an dieser Stelle ab, die Aufzählung der Einzelfälle, die Aufzählung der Anekdoten, der schrägen Interpreten von Rücksicht und Pflicht.
Irgendwann übrigens traf ich eine Verwandte, die man getrost als Verschwörungstheoretikerin bezeichnen kann, die das gesamte Spektrum an kruden Ideen der letzten Jahrzehnte ohne gefragt worden zu sein gratis abliefert, und sie hatte bei diesem Treffen eine Maske dabei, die ein Witz ist. Oder nein, kein Witz, ein sorgfältig genähter Hohn aus Mesh oder einem anderen zarten, durchsichtigen Material, das fuck you in die Richtung aller wirft.
(Ja, fuck you too, du komische Verwandte.)
Die Einschläge kommen also näher, die Einschläge kommen als Schläge und Detonationen direkt in Herzensnähe. Es lässt sich schwer sagen, was alles betroffen ist, was schon getroffen wurde, was alles zerfetzt am Körperboden liegt, was alles.
Der letzte Schlag saß ausgezeichnet. Der Schlag vor dem letzten saß ebenso ausgezeichnet. Alle Schläge sitzen ausgezeichnet, als hätten sie genau da landen sollen, wo sie schließlich landeten.
Die Schütz*innen jedoch sehen deutlichen Verbesserungsbedarf beim Zielen.
Ich sehe den nicht, mir reichen ihre Fähigkeiten, die allesamt Unfähigkeiten sind, todbringende.
Die sich an mich anschleichende Frage, ob ich nicht Namen nennen möchte und ein bisschen präziser werden, muss ich entschieden verneinen.
Mir ist mitten im Sicherheitsabstand, also mitten in der Hochzeit des Social Distancing eine gewaltige Unlust entstanden, den und die oder die Schütz*innen (zu denen der und die) auch gehören, na klar, bei ihren Namen zu nennen oder die Situation klarer zu umreißen.
Es ist alles bekannt.
Es gibt nichts Neues dazu.
Jedenfalls gilt es, den nächsten Schlag zu verhindern, was sich leicht sagen, aber schlecht umsetzen lässt.
Bis zu dieser Stelle habe ich 974 Wörter geschrieben und währenddessen mindestens 25 fiese Schläge einstecken müssen.
Dazu kommen die Erinnerungen an vergangene Schläge. Dazu kommen nicht die paar echten Schläge, die ich im Lauf meines Lebens einstecken musste.
Mein befriedetes Leben tat sich schon immer schwer mit Rangeleien.
Die letzten 25 Schläge, die einzustecken einem natürlich niemand bezahlt.
Ach.
Ich will nicht darüber reden.
äh äh äh
Was das Jetzige nun ist?
Nächste Frage!
Was das Jetzige nun sein könnte?
Ich gehe auf schwankendem Grund. Ich denke, mein Haus stürzt ein.
Sieh, die Risse in der Decke, die Risse außen an der Mauer, die sind doch alle neu.
Ich will mich nicht mehr an Termine halten, ich will nicht mehr schnell sein.
Ich will niemals mehr schnell sein.
Es sei denn, ich will schnell sein.
Ich könnte das alles auch anspruchsvoller, komplizierter ausdrücken.
Aber so genügt es vollkommen, glaube ich.
Ich heiße alle Langsamen herzlich willkommen und gestehe, dass mir die Schnellen oft sympathischer sind.
Ich habe allerdings keine Lust, das zu erörtern.
Es ist vermutlich so, dass ich nichts mehr erklären will.
Die erfreuliche Nachricht ist, dass der sonst so scheue, niemandem die Tür aufhaltende Nachbar plötzlich Worte mit mir wechselt.
Kürzlich bot er mir Trauben vom Markt an. Ich kostete, und sie schmeckten gut, weil ich wollte, dass sie gut schmeckten. Er hat mir bei der nächsten Begegnung Zeitungen in die Hand gedrückt, weil er sah, dass ich mittwochs und am Wochenende die Junge Welt aus dem Briefkasten hole, die ich seit ein paar Wochen abonniert habe. Er gab mir zwei Ausgaben der Gramma Internacional und das Sommerheft der Cuba Libre, in die ich reinlese und mich wie bei manchen Artikeln in der Jungen Welt ganz gut aufgehoben fühle. Es ist die Sprache meiner Vergangenheit, es ist die Sprache, mit der ich aufgewachsen bin. Ich weiß noch nicht genau, was ich von meinem Junge-Welt-Abo halten soll, aber auf jeden Fall freue ich mich, dass die Zeitung für eine nachbarschaftliche Annäherung gesorgt hat, und dass Dietmar Dath in dieser Zeitung schreibt: „Viele Bücher werden jetzt verramscht, das heißt: Sie werden billiger. Aber das heißt nicht zwingend: Sie sind weniger wert. Es kommt darauf an, wer sie liest und was daraus folgt.“
Und er schreibt: „Ich habe Ihnen versprochen, etwas von Feindschaft zu erzählen. Die Feindschaft, die ich meine, besteht, soweit es mich betrifft, nicht zwischen mir und denen, die meine Texte nicht mögen. Die Feindschaft, die mich freut, besteht zwischen mir und denen, die anderer Leute Arbeitskraft kaufen. Denn mit denen muss ich ein Gemeinwesen teilen, von dessen Vermögen und Bereitschaft, meine Praxis auszuhalten, bis ins Alltägliche abhängt, ob ich weitermachen kann. Von der Toleranz derer, die anderer Leute Arbeitskraft kaufen, mag ich nicht gern abhängen.“[1]
Ich gehe herum, um diesem und jenem zu entkommen. Ich gehe manchmal so, als ginge ich nicht in dieser Welt. Ich lege ja Wert darauf, versuchsweise so zu gehen, als ginge ich nicht in den gewohnten Kontexten, den vertrauten Abhängigkeiten.
Ich gehe natürlich immer wieder in die Irre.
Oder ich meine, mich in die Irre gehen zu sehen.
Ich bin kein Zenit einer Zeit und verspüre keinen Drang, ein Werk zu schaffen.
Ach ja, Demut, das war es dann, das Wort, das Anna Lena und ich am Telefon benutzten, das uns fremd vorkam und als Zierkragen vor den Augen hing, das Wort aber traf es, und das Wort ist die gute Ausbeute der letzten Monate, aber mehr will ich auch dazu nicht sagen.
Und natürlich könnte man sich fragen, warum ich zu allen Sachen eigentlich nichts sagen will.
Ich denke, ich möchte Dinge sagen, die ich für viel zu offensichtlich halte, um sie überhaupt anzusprechen:
(go to sleep, lausiges Baby Kapitalismus, Bluthund seit Geburt)
(go to sleep 21st century)
(go to sleep, Vereinfacher und Zuspitzer weltweit)
Paul B. Preciado sagt, und ich glaube ihm fast alles: Dies ist eine Revolution, wir sind mitten in einer Revolution.
Und ja, man merkt es, und: Nein, man merkt es nicht.
Die Frage lautet ja immer noch: Wann sind wir endlich da?
Und die Antwort erahne ich und lasse sie an dieser Stelle außen vor.
Ich gehe auch herum ohne zu gehen, ich bin halt so, und aus dem Social Distancing ist ein Abstand geworden der mir (nicht) bekommt, und da vorn stehen Zebras, weil ich nun möchte, dass dort Zebras stehen, und diese Zebras stehen anstelle der Demonstrationen.
Ich hatte die Demonstrationen so vermisst, aber kaum begannen sie wieder, vermisste ich sie nicht mehr, und jede*r weiß, warum.
Seht Ihr alle meine Zebras?
Na gut, es sind nicht meine.
Während ich versuche, das Jetzige zu erfassen, das Jetzige zu beschreiben, habe ich keinerlei Lust, das Jetzige zu beschreiben.
Ich verwandele alles Jetzige in eine Lektüre, einen Schnupfen, ein Paar Schuhe, ich verwandele alles Jetzige in einen Tanz, das ist der Tanz einer zum Tanzen Unbegabten, und kein Platz wird zum Tanzen reichen.
Aber Tage später, nachdem ich mit den Nachrichten, mit der Krankheit, mit allem, was dazu gehört, mit der Aussicht vor allem auf Schließungen, auf Enge, wo ich Weite brauche, wo ich so schwer nur auf Möglichkeiten verzichten kann, sitze ich nach einer Lesung in Berlin, die wunderschön war.
Die Lesung mit Sicherheitsabstand in einer Kirche. Mascha und ich reden ohne Maske. Das Publikum im Dunkeln mit Abstand.
Wo seid Ihr denn alle?
Erst am Ende komme ich auf die Idee, einen Scheinwerfer in den Raum zu richten, ich sehe das Publikum bis in die letzte Reihe. Später stehen wir vor der Kirche und ahnen: Das geht doch alles nicht, das darf man so doch gar nicht mehr. Wir stehen unter Schirmen und rauchen, wir tarieren den Abstand aus, wir ziehen weiter in ein griechisches Restaurant. Die lebensgroße Puppe am Eingang trägt Maske, wir tun nichts Verbotenes, als wir uns in dieses Lokal setzen, aber es fühlt sich an, als klauten wir uns Zeit, als klauten wir aus anderen Zeiten, als säßen wir in einer anderen Zeit, und wir genießen es sehr.
Ich sah vom Hotelzimmer aus die Sonne über Spandau aufgehen und lese im Zug eine Reportage im Süddeutsche Zeitung Magazin über das Hanns-Lilje-Heim in Wolfsburg, wo es im Frühjahr mehr Tote als in allen anderen Einrichtungen gegeben hatte. Ich lese über die Angst vor der zweiten Welle, die ich teile, eine vor mir selbst verborgene Panik vor der zweiten Welle, vor den Toten, den Folgen, der Entfernung.
Weitere Tage später, da ist der nächste Lockdown angekündigt, renne ich direkt nach einem kleinen Urlaub ins Kino und fahre am Tag nach Jena zu einer Aufführung von Stadt der Engel – The Overcoat of Dr. Freud. Das Stück hatte am Freitag Premiere und erlebt am Samstag seine vorerst letzte Aufführung. Das Stück holt mich zurück in eine Möglichkeit von Wirklichkeit, zurück in die Möglichkeit, mit dem Lockdown umzugehen, die Schließungen zu verkraften, die Reaktionen zu sortieren, die Begehrlichkeiten auch – und zu überlegen, was noch möglich ist, was möglich sein muss.
Und nun, der Lockdown ist da, war ich für eine Veranstaltung ohne Publikum in Poznań, saß mit einer Moderatorin und dem Dolmetscher in der Mitte vor zwei Kameras, saß da in einem Theater für einen Livestream. Vermutlich hat niemand zugeschaut, weil kurz vor dem Beginn unserer Übertragung Joe Biden offiziell die Wahl gewann, aber es war mir egal. Ich saß da in einem öffentlichen Gebäude und tauschte mich aus, glücklicher hätte ich nicht sein können.
(Man muss die sehen können, die man liebt, nicht wahr? Die Party of two.
Man muss Leute sehen können, um noch mehr Leute zu lieben.)
Wie soll man jetzt tanzen, überlegen Mascha und ich schon wieder beim Telefonat, das wir führen, während ich in Jena orientierungslos spaziere und sie in Berlin darauf wartet, dass ein Freund, der gerade zu Besuch ist, das Zeichen zum Abendessen gibt. Wie also tanzen? Wir haben alles, was erlaubt ist, durchdacht und keine gute Möglichkeit zum Tanzen gefunden.
In Jena fahren Jungs auf Simsons durch die dunkle Stadt, laut und zugleich fröhlich und gefährlich wirkend. Es sind sechzig oder achtzig oder mehr. Und ich bin ein bisschen verknallt in diese knatternde Parade.
Ich muss Schritte zurücktreten, um Möglichkeiten zu sehen, ich muss die Distanz in eine andere verwandeln, ich muss meine Verzweiflung über die Moskitonetzmundnasenmasken verwandeln, ich muss meine Wut über die Behauptung, dies sei eine ausgedachte Krankheit, die Leute sterben doch nicht daran, die Hinterbliebenen bekommen Geld dafür, dass sie Todesurkunden unterschreiben, auf denen steht: gestorben an Covid-19. Ich muss meine Rage darüber verwandeln, dass Ignoranten Behauptungen in die Welt setzen, die allesamt Erfindungen sind. Erfindungen der bösesten und schlechtesten Sorte, halbherzig recherchiert und deshalb außen vor lassend, dass die Todesurkunde Todesschein heißt und nicht von den Angehörigen unterschrieben werden muss.
Beispielsweise.
Beispiel an Beispiel ergibt eine Menschenkette, der ich meinen Rücken zuwende.
Ich verwandele das Jetzige, wie oben schon angedeutet, in eine Herde Zebras, warum auch nicht, die Zebras eilen zu den Demonstrationen.
Ich könnte so tun, als würde die für das Wochenende angekündigte Demonstration der Corona-Leugner nicht stattfinden. Manche der Demonstrierenden geben sich, während ich hier schreibe, bei Telegram Tips, in welchen Hotels sie unterkommen können, bieten sich auch an sich gegenseitig Bescheinigungen auszustellen, um dieser Reise zur Demonstration ein berufliches Antlitz zu geben.
Die schöne Geste der erfundenen Bescheinigungen (in den falschen Händen).
Welche Bescheinigungen müssen jetzt dringend geschrieben werden?
Mir fällt es immer leichter, in den Märchen und Zaubersprüchen als in den Gesetzestexten zu recherchieren.
Ich könnte so tun, als hätten die Demonstrationen nicht stattgefunden.
Aber das wäre vergebliche Liebesmüh.
Ich muss hier noch sagen, was ja schon wahnsinnig überholt klingt (Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät? Oh ja, es ist schon so spät. Während ich hier schreibe, kommen bereits die ersten Wahlergebnisse aus den USA ein: „Unterdessen wurde bekannt, dass in zwei kleinen Orten an der Ostküste die ersten Wahlentscheidungen gefallen sind: Der Demokrat Joe Biden gewann die Abstimmung in dem Dorf Dixville Notch in New Hampshire mit fünf zu null Stimmen. Im Nachbarort Millsfield setzte sich Amtsinhaber Trump mit 16 zu fünf Stimmen gegen Biden durch, wie hier kurz nach Mitternacht (Ortszeit) auf einer handbeschriebenen Tafel verkündet wurde.“[2]
Ich kann ja vor Aufregung kaum an mich halten und denke wie bei jeder Aufregung an das Gespräch von Christa Wolf mit ihrer Ärztin, das Beruhigungsmittel, das sie dann bekam, irgendwo habe ich das gelesen.
Welches soll ich nehmen?)
Die alten Worte sind also jene:
Ich möchte sagen, dass ich bei aller, äh, Demut, den letzten Lockdown misslungen fand. (letzten ist neu in diesem Satz, der Satz wollte sich, als er geschrieben wurde, noch nicht mit der Wahrscheinlichkeit eines nächsten Lockdowns beschäftigen)
Das geht doch besser, nicht wahr? (Ja, aber jetzt?)
Das geht doch solidarischer, nicht wahr? (Ja.)
Das kann doch mehr, als nur so tun, als hätte es Werte und Umsicht
und Menschenfreundlichkeit. (…)
Die Zebras sagen, worüber man sich wundern darf, aber nicht wundern muss:
Die letzte Pause war nicht gut genug, wir fordern eine neue. (Zebras, aber was tun wir nun mit dieser Pause, die keine ist?)
Die letzte Pause war gar keine. (Genau, sie war keine!)
Die letzte Pause war nur am Anfang ein guter Anfang, aber war dann
gleich ein Skandal von gutem Anfang. (Schluchz.)
Ein Hohn, ein Witz, eine Zumutung.
Das sagen die Zebras. (Wenn man mich fragt, sind die Zebras kluge Leute.)
Und wer würde nicht auf Zebras hören.
Wenn ein Zebra spricht, hören alle zu.
Wenn mehr als ein Zebra spricht, hören erst recht alle zu.
Das Zusammensein mit den Zebras ist unter anderem von Erfahrungen der Mehrstimmigkeit geprägt, wo Einstimmigkeit passender wäre.
Die Zebras haben ihre eigene Meinung und setzen ihre Stimmen gemäß ihrer Vorstellung ein.
Die Zebras rufen:
Dieses war der erste Streich, und der zweite folgt sogleich.
Die Zebras schlafen jetzt in meinem Bett, während ich hier schreibe.
Wir lassen die schlafenden Zebras außen vor, aber wissen: Gut möglich, dass die nächste Demonstration von Zebras unterbrochen wird. (Das ist eine gute Aussicht, ich will mich daran festhalten.)
Ich habe gerade mehr Vertrauen in diese Zebras als in die demokratischen Prozesse.
Es tut mir Leid, dass ich das sagen muss.
Ich spule zurück.
Ich würde allerdings nie zurückspulen.
Ich spule immer nur vor.
Ach ja.
Ach ja.
Hier gehört noch sehr viel Text hin, aber wer will den schreiben?
Und wer will ihn lesen? Wer würde ihn lesen wollen.
Ich wünsche mir viel häufiger Text wie diesen hier:___________________________________________________
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Text, der erst einmal nicht davon ausgeht, gelesen werden zu wollen, gelesen werden zu müssen.
Text, der gar nicht da ist.
Ich wünsche mir viel häufiger Text, der sagt: Komm‘ ich heut‘ nicht, komm‘ ich morgen.
Aber als ob das stimmen würde!
Nein, ich wünsche mir präzisen Text. Text, der nicht darauf aus ist, mir den Kopf zu verdrehen, ohne dabei Liebe im Sinn zu haben.
Das Ganze jedenfalls, diese ganze Gegenwart, und das meint nun mindestens März bis jetzt, als die Arbeit eines Regisseurs gedacht, bei dem ich mich vielleicht nicht in den besten Händen befinde: Guten Tag, Regisseur dieser Gegenwart, wenn ich um eine kleine Vorschau bitten dürfte? Wenn ich nun nach Intentionen und Plänen fragen dürfte? Was haben Sie eigentlich vor?
Und wichtiger noch: Was haben Sie mit den vergangenen Monaten gemeint? Wen wollten Sie unterhalten, wen strafen, wen erfreuen, wen schädigen? Wenn Sie nun bitte begründen würden, warum die letzten Monate arrangiert waren, wie sie arrangiert waren? Warum alle, die ich kenne, und alle, die ich nicht kenne, in ein übles Stück verwickelt waren und sind, ein Stück, das kein Ende kennt, das Hoffnung vom Bühnenhimmel wackeln lässt, Geld auch, und alles in giftiger Dosis. Warum ist aus den guten, umsichtigen Momenten am Anfang Ihres Stückes März-Jetzt relativ nahtlos eine unübersichtliche, unsolidarische Situation geworden? Warum denn das? Musste das sein? Ist Ihnen nichts Besseres eingefallen? Arbeitet Ihnen denn niemand zu? Sie inszenieren wie ein Mensch aus mindestens einem Jahrhundert Entfernung. Warum denn so rüde mit den guten Instinkten und den zarten Gefühlen? Warum denn so brachial gegen die feinen Fäden des Miteinanders? Was haben Sie denn da für ein Missverständnis, welchem schlechten Beispiel folgten Sie denn da?
Verehrter Regisseur dieser Gegenwart, Sie machen das doch schon so lange und denken sich unter der Verwendung öffentlicher Gelder und anderer Mittel immer dieselben Fehler aus.
Ich spreche ja nicht nur für mich, wenn ich sage: Wir wollen mal in einem Stück von Ihnen sein, das uns alle überrascht, das uns alle nachhaltig aktiviert, uns alle bezaubert.
Wir wollen nicht in Ihre Fallen gehen, die ja nicht einmal mit Bedacht aufgestellt sind, lieber Regisseur, und wir wollen nicht mehr auf jene hören, die Sie ins Zentrum ihrer Stücke rücken, als wären nicht auch andere Akteur*innen möglich.
Wir wollen nicht von Ihnen in die Enge getrieben werden, lieber Regisseur, der Sie doch alles für die Enge tun, als wären Sie ein Lobbyist enger Räume, enger Gefühle, enger Herzen, enger Hosen, enger Perspektiven.
Aber das sind Sie ja.
Lieber Regisseur, ich bin auf dem Weg, über Sie hinweg zu sein, aber natürlich entlassen Sie niemanden so leicht, lassen niemanden so leicht seiner/ihrer Wege ziehen und sind hier mit Reißleinen und Verbindungslinien zugegen, als würden Sie mich sonst vermissen.
Und fast ist es so, als würde ich Sie vermissen, wenn ich erst Ihrem Stück entwischt bin.
Aber, lieber Regisseur der Gegenwart, lieber Regisseur des Stückes März-Jetzt, abgesehen von jenem wunderschönen Moment der Solidarität, der nicht in eine Metapher gequetscht wurde, der kein Subtext war, keine sich anbietende Deutung, sondern erzählte Wirklichkeit, leisten Sie wenig, um Ihr Stück ein bisschen voranzubringen, um es zu verbessern.
Ich verzichte deshalb auf die Anwesenheit in allen Ihren Stücken, Sie können mich rückwirkend rausstreichen und müssen mir auch keine neue Rolle auf den Leib schreiben lassen.
Ich weise auf mögliche Stücke wie auf Länder, Regionen, Städte, Straßen, Häuser, in denen ja vielleicht ein besserer Platz für mich sein könnte.
Ich wohne ansonsten, falls Sie mich und das Gespräch mit mir suchen sollten, in folgenden Texten. Sie finden mich zum Beispiel hier:
Donna Haraway: Manifest für Gefährten
Vercors: Waffen der Nacht
Hannah Arendt: Vita activa
Armen Avanessian: Überschrift. Ethik des Wissens – Poetik der
Existenz
Marcel Beyer: Dämonenräumdienst
Virginia Woolf: Orlando
Juliana Spahr und David Buuck: An Army of Lovers
Shulamith Firestone: Airless Spaces
Franz Hessel: Teigwaren leicht gefärbt
Lisa Robertson: The Baudelaire Fractal
Marie Rotkopf: Wie ich Rocko S. vergewaltigt habe
Albertine Sarrazin: Der Ausbruch
Ljudmila Petruschewskaja: Sie begegneten sich, wie das so vorkommt, beim Schlangestehen in der Bar
…
Wir sehen uns.
[1] Vorabdruck aus seinen im Wallstein Verlag erscheinenden Poetik-Vorlesungen
[2] FAZ