In Zeiten von innenpolitischer Radikalisierung und erstarkenden Nationalismen drängt sich die Frage nach dem Verhältnis von Identität, Staatlichkeit und Gemeinschaft in den Vordergrund. Was meint der Begriff Europa, wen schließt er mit ein, wer bleibt außen vor? In Auseinandersetzung mit diesen Fragen blickt der diesjährige Preisträger Leon Kahane auf die Grundbedingungen von europäischen Nachkriegsgesellschaften zurück. Er reflektiert die geopolitischen Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die öffentliche Wahrnehmung von Staaten und ihre Beziehungen untereinander. Kahane lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder auf Ereignisse, in denen der Geschichte innewohnende Widersprüche zum Ausdruck kommen und denen auf einer rein analytischen Ebene nicht beizukommen ist. Sie spiegeln historische, politische und ökonomische, aber auch mythische und biografische Aspekte wider, die er in seinem Werk wahrnimmt, aufgreift und verarbeitet. Themen wie Diaspora, Migration und Globalisierung haben durch Kahanes eigene Familiengeschichte eine existenzielle Bedeutung. Das Reisen und die eigene Verortung sind dabei wichtige Parameter für seine künstlerische Praxis. Leon Kahane lebt in Berlin und Tel Aviv, zwei Städte mit sehr unterschiedlichen Hintergründen, die seine vielschichtige Herangehensweise bedingen und befördern.
Für die Ausstellung in der GfZK hat Leon Kahane eine Rauminszenierung entwickelt, deren Teile als autonome Arbeiten sowie auch als zusammenhängende Elemente einer größeren Rahmenerzählung gelesen werden können. Ausgehend vom Michelin-Guide, der im Jahr 1944 von der US-Army herausgegeben wurde, um über geeignetes Kartenmaterial für die Befreiung Frankreichs zu verfügen (For official use only), verfolgt er strategische Bewegungen bis in die Gegenwart: Waren- und Menschenströme ebenso wie deren Regulierung durch ökonomische und politische Interessen.
Im Zentrum der Ausstellung steht ein einfacher jedoch bedeutender Eingriff in die räumliche Struktur der GfZK-Villa: indem er die Mitte des Gebäudes öffnet, schafft er eine Betrachtungsperspektive, die inhaltlich, konzeptuell und visuell auf gegenwärtige politische Zustände, Spannungen und Widersprüche blicken lässt. Mittels der veränderten räumlichen Bezüge fragt Kahane auch nach den Routinen einer Rezeption im Allgemeinen. Seine ästhetischen Operationen argumentieren über die Schnittstelle Referenz, Material und Medium und zielen auf die institutionellen Rahmenbedingungen der Präsentation und
deren ideologischen Kern. Die Komplexität digitaler Medien als Dokumente gesellschaftlicher Realität finden sich dabei ebenso wieder, wie der Anspruch, politische Debatten um einen konkreten Erfahrungshorizont zu erweitern.